Unsere Gesichter
nebeneinander auf dem Photo, unsere beiden Augenpaare mit den gerade zum
Schließen ansetzenden Lidern, unsere Blicke ein wenig fiebrig, sein
Gesicht etwas unterhalb des meinen, ich sozusagen von hinten über
seine Schulter blickend, unsere Münder geöffnet, unsere beiden
Münder auf die gleiche Art und Weise offenstehend, als wären
es zwei Blüten an derselben Pflanze, die stummen roten Münder
mit dem dunklen Oval in der Mitte.
Ein älterer
Mann steht weit draußen auf einer ins Meer hinaus reichenden Mole.
Brandungswellen rollen über die Mole hinweg und manchmal scheint
es, als würde er im Schaum der Wellen schweben. Sein nackter Körper,
der nur mit einer Badehose bekleidet ist, hebt sich hell und rosa von
dem diffusen Grünbraun der Nordsee ab, und über ihm und überall
um ihn herum fliegen weiße Vögel. Sie steigen auf und fallen
wieder ab in vielen verschlungenen elliptischen Ringen und Kreisen, während
sie den Brotstücken nachjagen, die er ihnen zuwirft, aber es sieht
so aus, als wären sie selbst es, mit denen er zauberhaft jongliert.
Am Flughafen
ein kleiner Stoffaffe, der mit weit ausgebreiteten Armen allein auf dem
leeren Gepäckförderband lag, das ihn, leise ratternd, morgens
um fünf an den müden Reisenden vorbei trug.
Regen, leise
Das Geräusch
des Regens, ich hörte es nicht. Und dennoch war es nach und nach
in mein Bewusstsein gedrungen. Aber was hörte ich, wenn ich nichts
hörte? Etwas ähnliches wie das kaum wahrnehmbare weit entfernte
Ziepen junger Mäuse, etwas Ahnliches wie das zarte, völlig tonlose
Zupfen von Harfen. Das laute Ticken des Weckers auf dem Tisch war dagegen
regelmäßig und zerteilend. Unendlich unregelmäßig
und überall zugleich anwesend war das Geräusch des Regens.
Ich finde
das sieht immer so schön aus, sagte die Arzthelferin, als sie eine
Reihe von rot-orange und ockerfarbenen Kanülen aus der Verpackung
gezogen hatte, jene Arzthelferin, die es einfach nicht schaffte schnell
zu sein, die von allen gejagt wurde, auch von sich selber, die aber nichts
und niemand aus ihrer Langsamkeit reißen konnte.
Etwas liegt
flach auf der Straße und bewegt sich nicht. Autos fahren darüber
hinweg, Fußgänger, Fahrräder. Fast schon schwarz vor Schmutz
sind die fünf fingerartigen Teile, die strahlenförmig davon
ausgehen, um ein graublaues Inneres herumliegen: ein alter lederner Arbeitshandschuh.
Zufällig
bei Grabungsarbeiten entdeckt wurde vor kurzem ein jahrtausende altes
Schneckengehäuse, das über und über mit Edelsteinen bedeckt
ist. Es deute nichts darauf hin, so hieß es von Wissenschaftlern,
dass die Diamanten dem Schneckengehäuse zu einem späteren Zeitpunkt
zugefügt worden seien, auch hätte es sicher nie als Schmuckstück
oder Ritualgegenstand gedient, es sei vielmehr wahrscheinlich, dass die
Diamanten auf natürliche Weise auf dem Gehäuse der Schnecke
gewachsen seien, als sie noch lebte.
Mitten in
der Stadt wurde es auf einmal kaum merklich ruhig. An der großen
Kreuzung hatten die Autos in allen Richtungen angehalten und auch die
Fußgänger standen seitlich der Straßen an den überwegen
und warteten. Die Ampeln auf der einen Seite der Kreuzung waren rot geworden
und die Ampeln auf der anderen Seite sollten alsbald Grün werden,
nur diesmal schien es länger zu dauern. Es dauerte einfach. Die Leute
schauten ins Leere und schienen zu vergessen, wo oder wer sie gerade waren.
Nichts bewegte sich. Nur der Regen. Es war Oktober, es war fünf Uhr,
und es war ungewöhnlich, dass die Autos um diese Zeit schon Licht
an hatten.
(Köln)
Lust, über
den von der Sonne beschienenen Asphalt zu gehen, zu stapfen, wie über
einen Acker.
Idee für
eine bewegte Skulptur auf dem innerstädtischen Weiher: Einige große
Karpfen, die darin zuhauf leben, einfangen, ihnen eine Schnur umbinden,
an der ein mit Helium gefüllter Luftballon hängt, und dann die
Karpfen wieder in den See setzen und beobachten, wie die Luftballons,
(in verschiedenen Farben) über den See schweben, ballettieren, kreisen.
Und auf den
Couchgarnituren und Betten weltweit, die Luftsprünge der Kinder.
Sonntagmorgens,
Schritte in der ruhigen Stadt, das Geräusch von Absätzen auf
dem Asphalt, als ob man es hörte: Dies sind die Sonntagsschuhe.
Wie viel Schönheit
es in der Natur doch gibt, die immer wieder aufs Neue sich offenbart an
Orten und zu Zeiten, wo niemand sie sieht: Die Sonnenauf- und untergänge
in den Eismeeren oder die Tänze balzender Paradies-vögel in
den Dschungeln von Neuguinea. Und wie gänzlich unbekümmert die
Natur darüber ist, ob sie ein Publikum hat oder nicht. Im Gegensatz
dazu die Schönheit, die die Menschen hervorbringen. Man stelle sich
die tägliche Aufführung eines Balletts inmitten einer Wildnis
ohne jeden Zuschauer vor. (schön)
Früher
meine größte Angst, dass niemand mehr Notiz von mir nehmen
könnte, dass ich von allen vergessen werde. Heute, das "Vergessen-Werden"
als eine Art Rausch, eine Art Raumerfahrung.
Die Art wie
manche Vögel fliegen, als würden sie springen, als würden
sie wie flache Steine übers Wasser geworfen, durch die Luft hüpfen.
Das Geräusch
der Türklinke an der naturhölzernen Tür, die in die Küche
führt. Die Küche, von der aus zwei weitere Türen, eine
in die Garage und eine zum Flur hinaus führen. Zuerst das merkwürdige
Geräusch der Türklinke an der naturhölzernen Tür,
und gleich darauf das Schlagen einer dieser beiden anderen Türen,
kein mächtiges Zuschlagen, sondern ein beinahes, durch den Impuls
des Luftstromes verursachtes kurzes Andrücken an den Türrahmen,
ein luftgepolstertes Berühren, das dem vorherigen Geräusch folgt
wie ein Schatten oder ein Reflex.
Das
Geräusch der Türklinke an der naturhölzernen Tür durchläuft
verschiedene Phasen, die sich jedes Mal in gleicher Weise wiederholen.
Anfangs wenn die Hand die Klinke berührt, ein leises Rütteln
und Wummern. Dann beim ersten Herunterdrücken ein kurzes aber lautes
Röcheln, so als hätte jemand plötzlich etwas im Hals. Des
Weiteren ist das Bewegen der Klinke überraschend leise und mühelos,
so mühelos, als würde man mit einem wirklich scharfen Messer
schneiden. Und dann bricht auf einmal wieder ein Geräusch aus, das
wie das Hereinkrachen eines Gewitters ist, wie ein gebrochener, sich lösender
Husten. Daraufhin öffnet sich die Tür tonlos, mühelos,
nur im Hintergrund das luftgepolsterte beinahe Zuschlagen der anderen
Tür.
Ein eigenartiges
Gefühl der Leere und des Verloren-Seins in den Tagen, nachdem ich
ein gutes Buch ausgelesen habe.
Odyssee,
oder man könnte es auch so nennen: Das immer wieder neue Erobern
eines Platzes, wo ich SEIN kann.
Eine eigenartige
Verdummung, die mich jedes Mal befällt, wenn ich in kleine Räume
komme, in denen sich viele Dinge befinden.
Meine Mutter
am Telefon zwei Wochen nach dem Tod meines Vaters. Ihre Stimme, wie verändert
sie klang, wie das viele Berührt-sein, auch das Weinen, das "im Herz
sein", ihre Stimme mit einem Raum zu umgeben schien, der ihr eine besondere
Resonanz verlieh, ähnlich den Liedern von Amseln nach einem ausgiebigen
Regen im noch immer tropfnassen Baum gesungen. Dann ihr Erzählen
von Belanglosigkeiten, ein bewegtes und zugleich losgelassenes, gleichförmiges,
entspanntes Aneinanderreihen von den Dingen, die sie tat, zu tun hatte,
auch noch Dinge, die mit der Beerdigung zu tun hatten, dem Schreiben von
Dankeskarten für Anteilnahme und dem Beauftragen des Gärtners
für das Grab. Dinge, die sie schon seit der Beerdigung wiederholt
erzählte, was dieser und jener Bekannte zu der Beerdigung gesagt
hätte und so weiter, ein Vom Hölzchen aufs Stöckchen Kommen,
aber ohne den Raum zwischen ihr und mir am Telefon wirklich voll zu stopfen,
vielmehr schien es, als löste sich alles auf, worüber sie redete,
als führten ihre kleinen Geschichten über dieses und jenes alle
ins Nichts, verlören sich auch noch weiterhin lautlos, während
sie schon das nächste Thema, die nächste Episode zu erzählen
begann, die alsbald in gleicher Weise endete, wie immer blasser werdende
Striche eines Filzstiftes. Und dabei über mir der Himmel voller Federn
und Schleierwolken und die Sonne, die den ganzen Tag von einem großen
Regenbogenring umgeben war.
Die Hoteldusche
in Jaipur, aus der nicht allzu viel Wasser kam, für indische Verhältnisse
jedoch mehr als zu erwarten war, es tröpfelte nur, aber es tröpfelte
auf eine eigenartige Weise, die mich, zunächst ohne zu wissen warum,
jeden Tag aufs Neue berührte, und irgendwann fiel es mir auf: ein
leichter Sommerregen, sie regnete. Sein Blick zurück zu mir, die
ich im Bus saß und noch einige Stationen weiter fuhr.
Mein Blick
nach draußen, durch die großen sauberen Busscheiben hindurch,
dorthin wo er, der Unbekannte stehen geblieben war, sich umgedreht hatte
und zu mir zurück schaute. Jene Zartheit in unseren Blicken. Das
Erkennen und Verneigen vor etwas im jeweils Anderen, von dem wir beide
nicht wussten was.
Es ist angenehmer
in einem Haus zu wohnen, in dem einige Wohnungen leer stehen? In jedem
Haus sollte mindestens ein Zimmer oder eine Wohnung vollkommen leer bleiben?
Und ist das Besondere am Markusplatz in Venedig vielleicht nicht allein
die großzügige Weite des dargereichten Raumes, sondern die
vielen leer stehenden Wohnungen in den alten Palästen ringsherum,
mit ihren zum Teil ungeputzten Fenstern und den verblichenen, manchmal
schräg und in Fetzen hängenden Samtvorhängen. Diese offensichtlich
unbewohnten und wahrscheinlich von Spinnen benetzten Räume wirken
auf den Platz hin, als atmeten sie gleichsam die Betriebsamkeit und Wichtigkeit
gegenwärtigen Geschehens ein und strahlten im Gegenzug eine gewisse
kühle Müdigkeit, Mattheit oder auch Verschwiegenheit aus, ähnlich
der Verschwiegenheit alter Menschen, denen die Anstrengung des Sprechens
längst zuviel geworden ist und die, in Schweigen versunken, auf ihre
Umgebung eine ähnliche Wirkung haben wie diese Wohnungen am Markusplatz
in Venedig.
Eine Fliege
sitzt auf der weiten Ebene eines leeren Tisches. Das Holz des Tisches
schimmert silbern, die Flügel der schwarzen Fliege schimmern silbern
und der Sturm, der ums Haus tobt, der die geschützte Terrasse mit
dem bleichen Tisch nur in abge-schwächter Form erreicht, stellt die
Flügel der Fliege senkrecht auf, und die Sonne bescheint die wehenden,
sich drehenden und wendenden Flügel, nur die Fliege selbst bewegt
sich nicht, bleibt lange dort sitzen, ein schwarzer Punkt auf einem großen
leeren Tisch.
Ich bin Schaum,
der hüpfend auf dem Kamm einer Welle reitet. Ich bin Wasser, das
man für eine Sekunde beim Fallen sieht, wenn man in eine Fontäne
schaut. Ich bin das saftige Gelb einer Kerze und das blassere Gelb, das
ihr Spiegelbild in der Scheibe reflektiert. Ich bin der hohe schmale Durchblick,
den die Gardine am Fenster seitlich noch freilässt, werde berührt
und sanft geschubst, wenn der Wind den Stoff zu mir hin schaukelt.
Das kleine
Mädchen formte mit ihrer Hand eine Art Löffel und führte
sie seitlich von oben vorsichtig in das Hühnereiernest ein. Die Eier
fühlten sich warm an, auch weil kurz zuvor noch ein Huhn darauf gesessen
hatte und sie schienen zu pulsieren. Im Hintergrund und überall um
sie herum flogen und rannten die aufgescheuchten Hühner. Sie hörte
ihr wütendes, ängstliches Gackern und spürte den Wind im
Nacken, den ihr aufgeregtes Fliegen und Flügelschlagen verursachte,
während sie langsam ein Ei heraus nahm und die wehenden flaumigen
Federn betrachtete, die an Kotresten daran klebten.
Ihre Art
sich zu unterhalten gefiel mir. Es war wie bei einem Verhör, sie
fragte mich aus. Schön war, wie sie nach jeder Antwort gleich mit
einer weiteren Frage nachrückte, ohne die kleinste Lücke aufkommen
zu lassen, die das Gespräch wieder hätte abreißen lassen.
Mir gefiel die Nähe. Normalerweise mochte ich es nicht, wenn Leute
den Raum mit tausend Fragen und Wörtern vollstopften, doch unter
ihren tausend Fragen und Wörtern spürte ich einen Wunsch und
eine Bereitschaft nah und vertraut zu sein, und es war schön, angebunden
zu werden von diesem Wunsch.
Auf dem Dach
des Nachbarbungalows eine Satellitenschüssel, rund um ihren äußeren
Rand unglatt, brüchig, wie angefressen, und im Innern der Schale
ein ins Gelb kriechendes Weiß, durchzogen von einer Art Landkarte
mit rehbraunen Kontinenten und Inseln, diese jedoch unscharf gezeichnet.
Manche Texte
brauchen hunderte andere um sich herum um stehen zu können und andere
stehen ganz allein (verbreiten Raum).
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